LOST PLACES – Buchbeitrag bei “Erinnerungsorte Brandenburg” (2021) von Holger Raschke

I. Was sind Lost Places? Ein Definitionsversuch

Lost Places bzw. ‚verschwundene Orte‘ lösen bei Betrachter oder Besucher eine besondere Magie aus. Doch was sind alles Lost Places, was steckt hinter der Faszination, und warum sind sie für Brandenburg wichtige Erinnerungsorte? (...)

Als Kind und Heranwachsender habe ich viele der heutigen Lost Places noch belebt und bevölkert erlebt. Die unbeschwerten Tage im Ferienlager oder das geschäftige Treiben in Fabriken oder Betrieben. Unsere wöchentlichen Fahrten zu den Großeltern im Fläming führten vorbei an kilometerlangen Mauern, hinter denen Tausende sowjetische Soldaten lebten und deren Präsenz – neben den Grenzanlagen der deutschen Teilung – der sichtbarste Ausdruck des Kalten Krieges in der Region war.

Etliche dieser Orte sind verschwunden, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes: beräumt, abgerissen, in eine Brachfläche gewandelt oder komplett neu überbaut.[1] Oftmals sind solche Orte aber auch nur aus dem Blickfeld der Menschen verschwunden. Sie sind materiell noch vorhanden, nur leerstehend, eingestürzt, überwuchert und vergessen. Solche Orte werden Lost Places genannt. Der Begriff Lost Places ist nicht unproblematisch, denn es handelt sich hier um einen Anglizismus, der im Englischen kaum Verwendung findet.[2]

Lost Places sind architektonische Strukturen, die einen Funktionsverlust erlitten haben und sich durch eine Re-Kontextualisierung infolge unterschiedlicher Aneignungsprozesse auszeichnen.[3] Es sind also Bauwerke, die verlassen beziehungsweise aufgegeben und mitunter dem Verfall preisgegeben sind. Bauwerk meint hierbei nicht nur Gebäude, sondern auch technische Einrichtungen oder unterirdische Anlagen. Es handelt sich um einen Zustand und somit nicht zwangsläufig um etwas Abgeschlossenes oder gar Unumkehrbares. Ein heutiger Lost Place kann irgendwann einstürzen und von der Natur vollends eingenommen werden. Er kann jedoch auch ‚gerettet‘, saniert und wieder genutzt werden. Manche Objekte befinden sich in einer Phase der Transformation, wie die ehemalige Kaserne Krampnitz bei Potsdam. Die Entwicklung zu einem neuen Wohngebiet mit Tausenden Bewohnern ist längst beschlossen, die Bauarbeiten im Gange und dennoch handelt es sich hier (noch) um einen Lost Place.

Eine besondere Aufmerksamkeit erfahren Lost Places durch so genannte Urban Explorer, deren Hobby Urbex beziehungsweise Urban Exploration ist. Anhänger dieser Szene versuchen, Lost Places aufzuspüren und zu erkunden. Häufig dokumentieren Foto- oder Videoaufnahmen diese Entdeckungstouren. Schon seit vielen Jahren erfreuen sich Lost Places einer wachsenden Beliebtheit. Es gibt bildgewaltige Publikationen[4], und in den sozialen Medien wie bei Facebook oder Instagram teilen Tausende ihre Bilder.

Die wachsende Popularität der Urban Exploration wird von vielen alteingesessenen und ‚orthodoxen‘ Szene-Anhängern kritisch gesehen, die meistens der Devise folgen ‚leave nothing but footprints‘ – ‚hinterlasse nichts außer deinen Fußabdrücken‘. Sie kritisieren den ‚Massentourismus‘ und das leichtfertige Veröffentlichen von Adressen, denn für sie sollen die Orte möglichst authentisch sein (und bleiben). Bei dieser Philosophiefrage geht es um Plünderung, Vandalismus, Graffiti oder Müll, der an Lost Places hinterlassen wird, je bekannter sie sind.[5] Tatsächlich haben die Reisebeschränkungen infolge der Corona-Pandemie 2020 das Interesse an Lost Places sogar noch erhöht, was auch ein Blick in die Google Trends bestätigt.[6]

Daher ist schon lange nicht mehr jedes leerstehende und augenscheinlich ungenutzte Gebäude ein Lost Place im Sinne eines geheimnisumwobenen und verborgenen Ortes. Mit dem gestiegenen Interesse erfolgte auch eine zunehmende kommerzielle Verwertung solcher Objekte. Als eines der deutschlandweit bekanntesten Lost Places konnte der Baumkronenpfad über der Weltkriegsruine Alpenhaus in Beelitz-Heilstätten fünf Jahre nach der Eröffnung bereits eine Million zahlende Gäste begrüßen.[7] Längst ist aus der Nische ein Mainstream-Thema geworden.

Die Betrachter sind beim Anblick der Objekte fasziniert von der Ästhetik des Verfalls und dem Charme des Morbiden. Mit ihrer Ruhe und relativem Stillstand sind Lost Places auch Rückzugsorte vor der Reizüberflutung in einer immer komplexeren und moderneren Welt.

Lost Places Fotografie

„Die Ästhetik des schleichenden Verfalls ist ein beliebtes Motiv bei Fotografen“ (Foto: Holger Raschke/ Berlins Taiga, 2016)

 

Mitunter ist es auch der Reiz des Verbotenen beim Betreten der Lost Places, der die Faszination speist. Tatsächlich dürfte das Betreten von Lost Places de facto in den wenigsten Fällen explizit erlaubt sein. Die Verbote werden nicht nur damit gerechtfertigt, dass es sich um fremdes Eigentum handelt, sondern auch mit Verletzungsgefahr durch den ungesicherten Zustand der Bauwerke. Somit kann der Reiz am Aufsuchen von Lost Places möglicherweise auch als (un)bewusster Ausbruch aus einer stark reglementierten und normierten Gesellschaft interpretiert werden.

Eine Mehrheit würde sicher mit der These mitgehen, dass Lost Places als Fenster in die Vergangenheit gesehen werden können. Man fühlt sich als Zeitreisender, der eine Welt betritt, in der die Zeit irgendwann stehen geblieben ist. Hier stellt sich dann natürlich die Frage, ob auch Erinnerungen mit diesen Orten verbunden sind? Lost Places können Auskunft über Aspekte des kulturhistorischen Charakters einer Region geben und zwar dann, wenn es eine Vielzahl ähnlicher Lost Places in einer Region gibt. Radikale Brüche wie der ‚Super-GAU‘ in Tschernobyl 1986 oder die politische Wende 1989/90 begünstigen ein solches Phänomen, denn Lost Places sind dann kulturhistorische Hinterlassenschaft einer vergangenen Epoche. Verlassene FDGB-Ferienheime sind Ausdruck eines veränderten Reiseverhaltens, leerstehende Fabriken einer veränderten Wirtschaftsstruktur und verlassene Kasernen einer beendeten Block-Konfrontation. Lost Places können somit auch als charakteristische Merkmale einer spezifischen historischen Erinnerungslandschaft gesehen werden.

Während Lost Places für die einen anziehend wirken, werden sie von anderen eher als etwas Negatives empfunden, insbesondere dann, wenn sie im Wohnumfeld liegen oder gar das Erscheinungsbild eines Ortes dominieren. Verlassene Häuser, Ruinen und Brachen gelten als Makel oder Schandflecke, die in der Wahrnehmung von Anwohnern das Image eines Ortes negativ beeinträchtigen.[8] Eine symbolische Aufwertung erfolgt meist von Außenstehenden. Lost Places erhalten somit eine emotionale Komponente. Diese emotionale Komponente wirkt umso stärker, je intensiver die Menschen in einer Region mit den Lost Places eine (emotionale) Verbindung hatten, bevor diese ‚lost‘ waren oder desto stärker die symbolische Bedeutung dieser Orte ist.

Trotz der Schwierigkeit, eine klare Definition für Lost Places zu formulieren, sollen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Kategorien benannt werden, nach denen sich verlassene Orte im Land Brandenburg typisieren lassen:[9]

– Wohnhäuser

– Land- und Gutshäuser/Schlösser

– Industrieanlagen und sonstige gewerbliche/wirtschaftliche Objekte

– Objekte der Kultur und Freizeit (Hotels, Ferienheime, Kulturhäuser usw.)

– Medizinische Einrichtungen (Krankenhäuser, Sanatorien usw.)

– Militärobjekte (Kasernen, militärische Einrichtungen, Relikte auf Übungsplätzen usw.)

– Verkehrsobjekte (Bahnhofsgebäude, Bahnstrecken, Tunnel usw.)

Diese Auflistung nach der einstigen Nutzungsform macht bereits deutlich, dass es eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen geben dürfte, die eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Erinnerung mit diesen Orten verbinden. Erinnerungen können sowohl unmittelbar durch eine persönliche Verbindung zum Ort als auch symbolisch sein, indem zu den Orten nur eine indirekte oder abstrakte Verbindung besteht, sie möglicherweise für eine bestimmte Ära im kollektiven Bewusstsein verankert sind.

Die Nähe zum politischen Machtzentrum Berlin sorgte im Brandenburger Umland für die Ansiedlung von repräsentativen Anwesen, Jagdhäusern oder Schulungszentren, aber auch von Militärobjekten. Auch diese Struktur ist Teil einer spezifischen historischen Erinnerungslandschaft. Durch eine Nutzung über politischen Epochen hinweg spiegeln solche Orte auch die wechselvolle Geschichte der Region. Das Objekt mit der ehemaligen Villa des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels am Bogensee bei Wandlitz im Barnim[10] wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert und als FDJ-Hochschule genutzt. Das heute leerstehende Areal ist historisch kontaminiert, sodass mögliche Nachnutzungen dieses Lost Places von Diskussionen begleitet werden.[11]

Verlassene DDR Kaderschmiede Bogensee

 

Die ehemalige FDJ-Hochschule am Bogensee im Barnim (Foto: Holger Raschke/Berlins Taiga, 2021)

 

II. Der letzte Vorhang ist gefallen?

Ein im Wald liegendes Sanatorium oder Hotel ist für viele wahrscheinlich eine der ersten Assoziationen beim Gedanken an einen Lost Place. Doch Lost Places müssen nicht unbedingt abseits der großen Verkehrswege, einsam und versteckt im Wald liegen.

Ein konkretes und dabei spannendes Beispiel für einen prominent gelegenen Lost Place, der gleichzeitig als Erinnerungsort Bedeutung hat, ist das ehemalige Terrassenrestaurant Minsk in Potsdam. In den späten 1970er Jahren eröffnete es am Hang des Brauhausberges, nur wenige hundert Meter nördlich des heutigen Potsdamer Hauptbahnhofs. Die belorussische Folkloregaststätte galt als eines der beliebtesten Gaststätten in Potsdam. Nach der politischen Wende hatte das Haus verschiedene Nutzungen, ehe es seit 2000 leer stand. Im Laufe der Jahre verfiel das Gebäude immer mehr, doch die Öffentlichkeit nahm kaum Notiz davon. Als Lost Place zog es herumstromernde Jugendliche, Kabel- und Schrottdiebe oder Fotografen an.

Erst nachdem in Potsdam eine heftige öffentliche Debatte um Stadtentwicklung und den Umgang mit DDR-Architektur entbrannt war, richtete sich der Fokus wieder auf das Minsk. Im Raum standen der Abriss dieses Sonderbaus sowie die Überbauung des Areals mit neuen Häusern und plötzlich bekam dieser lange vernachlässigte Ort ganz viel Aufmerksamkeit. Der Widerstand gegen die Abrisspläne wuchs.[12] Das ehemalige Terrassenrestaurant wurde quasi zum Symbol für das Gefühl vieler Potsdamer, dass die Spuren einer historischen Epoche und damit auch individuelle Erinnerungen aus dem Stadtbild verschwinden würden. In den sozialen Medien wurden Bilder und Geschichten geteilt, die von Hochzeiten, Jugendweihen oder Geburtstagen berichteten. Das Minsk beschäftigte die Stadtpolitik und war in aller Munde – spätestens dann, als die spektakuläre Rettung des Gebäudes und Umwandlung in ein Museum verkündet wurde. Die Bauarbeiten sind im Herbst 2020 bereits weit fortgeschritten.

Ein ähnlich prominentes Beispiel für ein verlassenes Kulturhaus, um dessen Fortbestand lange gerungenen wurde, ist das Lichtspieltheater der Jugend im Stadtzentrum von Frankfurt/Oder. Das Haus aus den 1950er Jahren ist ein klassisches Kulturhaus jener Epoche, erbaut im Stile des sozialistischen Klassizismus. Mit einer Bäuerin und einem Stahlarbeiter flankieren zwei steinerne Plastiken den Haupteingang. Dahinter zieren landwirtschaftliche und industrielle Motive die Fassade. Zahlreiche Eigentümerwechsel brachten keine Bewegung auf diese innerstädtische Brachfläche. Wie bei ähnlichen Objekten fehlen Investoren oftmals eine emotionale Bindung, sodass sie selten Interesse am Erhalt der (Denkmal-)Objekte haben, sondern vordergründig die Vermarktungschancen des Bodens im Blick haben, wenn der Lost Place einmal zusammengefallen oder abgerissen ist. Als das über zwanzig Jahre leerstehende Gebäude für einen Tag des offenen Denkmals geöffnet wurde, standen über 2.000 Menschen Schlange, um diesen Lost Place zu besichtigen. Die Stadt Frankfurt/Oder hat das Gebäude nun zurückgekauft und plant nach der Sanierung eine öffentliche Nutzung als Museum für moderne Kunst.

Verlassenes Kulturhaus Frankfurt Oder DDR

Eines der markantesten Gebäude in der Innenstadt von Frankfurt/Oder: das ehemalige Lichtspieltheater der Jugend soll wieder saniert werden (Foto: Holger Raschke/Berlins Taiga, 2020)

 

Sowohl das Minsk in Potsdam, als auch das Lichtspieltheater der Jugend in Frankfurt/Oder verdeutlichen den zeitlichen Aspekt, den Lost Places teilweise haben können: Phasen des Verfalls und der Nicht-Beachtung können endlich sein. Solche Orte werden dann zu lost Lost Places. Möglicherweise sind die beiden eben genannten Beispiele prominenter Lost Places auch ein Ausdruck eines sich wandelnden öffentlichen Interesses? Während diese Orte (irgendwann) nach der Wende aus dem öffentlichen Blick gerieten, als steinerne Monumente eines gescheiterten Staates aufs Abstellgleis geschoben wurden, scheint es nun nach dreißig Jahren Wiedervereinigung ein steigendes öffentliches Interesse am Erhalt solcher Orte zu geben. Getragen wird dieses wachsende Interesse auch von einer jüngeren Generation, die sich weniger emotional und ideologisch dem architektonischen Erbe der DDR widmet.

 

III. Die Bänder stehen still

Während Tausende die ehemaligen Kulturhäuser und kulturellen Stätten vor allem mit ihrer Freizeit verbinden, gibt es einen weiteren Typus von Lost Places: Verlassene Industrieanlagen, Fabriken und Betriebe stehen für die Arbeitswelt als weiteren großen Themenkomplex.

Der größte Teil der Lost Places aus diesem Bereich dürfte infolge des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft entstanden sein.[13] Diese Lost Places sind jedoch nicht nur Symbole der untergegangenen DDR, sondern auch der Transformationsphase nach der politischen Wende. Denn genau wie bei einigen der kulturellen Stätten setzte der Niedergang nicht zwangsläufig 1989/90, sondern mitunter mit zeitlicher Verzögerung ein. Bis 1993 wurden in Städten wie Wittenberge bis zu 90% der Industrie abgewickelt.[14]

Die Privatisierung und oftmals anschließende Abwicklung der ehemaligen Volkseigenen Betriebe, die massive Deindustrialisierung sowie die einsetzende Massenarbeitslosigkeit und Entvölkerung ganzer Landstriche ist eines der düsteren Kapitel der Wendegeschichte. Wenn Betriebe schließen und Massen abwandern, ist klar, dass leere Gebäude zurückbleiben. Nicht alles wird abgerissen oder saniert, viele Objekte fallen in einen ‚Dornröschenschlaf‘ und werden als romantische Industrierelikte von Fotografen erkundet.

Abandonded Industrial Brandenburg

Lost Place der besonderen Art: ein stillgelegter Schaufelradbagger in der Lausitz als Symbol des Strukturwandels (Foto: Holger Raschke/ Berlins Taiga, 2020)

 

Die von der Schließung Betroffenen werden in den seltensten Fällen die romantische Ästhetik des Verfalls bewundern. Das geschlossene und verfallene Industriegebäude am Ende der Straße ist keine Erfolgsgeschichte. In der eigenen Biografie wird diese Episode – die manchmal über Jahrzehnte das Leben prägte – häufig als Scheitern empfunden, die Lebensleistung geschmälert. Für viele Menschen bildeten die Betriebe in der DDR mit ihren Betriebssportgemeinschaften oder Betriebsferienlagern einen zentralen Lebensmittelpunkt. Romantisiert wird dann höchstens die Erinnerung an das Früher, als die Bänder noch in Betrieb waren, auch wenn die Vergangenheit im Hinblick auf einen doch oftmals monotonen Arbeitsalltag verklärt erscheint. Es ist jedoch auch nichts Ungewöhnliches, dass negative Aspekte der Vergangenheit verblassen und die positiven Bilder im Rückblick überwiegen.

Doch es sind nicht immer nur die unmittelbar Betroffenen, die sich für die Lost Places als Erinnerungsorte interessieren. In der Generation der ‚Wendekinder‘ lässt sich ein wachsendes Interesse an der Geschichte beobachten, die Ausdruck findet in Initiativen wie Industrie.Kultur.Ost,[15] die Industriebauten in Ostdeutschland dokumentieren.

Interesse an der Geschichte hinter dem Lost Place hat auch das Online-Magazin „rotten places“. In der Rubrik „Most Wanted“ werden Aufrufe an die Leser gestartet, sich mit Hintergrundinfos zu einem verlassenen Industrieobjekt der Optischen Werke in Rathenow zu melden, damit in einer späteren Ausgabe die Geschichte dieses Ortes erzählt werden kann.[16]

Die Folgen eines strukturellen Wandels haben weitere Typen von Lost Places hervorgebracht. Die Deindustrialisierung hat auch die Landwirtschaft getroffen. Gab es zu DDR-Zeiten große Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), sind die Nachfolgebetriebe heute personell deutlich reduzierter und benötigen nicht mehr die komplette Infrastruktur. Dadurch gibt es in vielen Dörfern auch auf den Betriebsgeländen der ehemaligen LPGs Leerstand, auch wenn das keine klassischen Lost Places im Sinne der Urbex-Szene sind. Auch dürfte das historische Interesse außerhalb der jeweiligen Dorfgemeinschaften relativ überschaubar sein, zumal es sich hier in den seltensten Fällen um architektonisch anspruchsvolle Gebäude handelt. Nichtsdestotrotz sind solche Orte als Erinnerungsorte zumindest für die lokale Bevölkerung relevant – stehen sie doch für eine Zeit, in der die LPGs sowohl als Arbeitgeber, als auch hinsichtlich des sozialen und kulturellen Lebens den absoluten Mittelpunkt im Leben der Landbevölkerung bildeten.

Mit der Industrie und Landwirtschaft eng verbunden war die Verkehrsinfrastruktur. Daher können auch verlassene Bahnanlagen, stillgelegte Bahngleise und leerstehende Bahnhofshäuser sowohl als Ausdruck eines fundamentalen Strukturwandels als auch als Erinnerungsorte gesehen werden.

 

IV. Post-apokalyptische Idylle in Brandenburg

Mitunter führen stillgelegte Bahngleise noch zu einer letzten Kategorie von Lost Places, die für das Land Brandenburg eine herausragende Bedeutung hat: Militärobjekte. Von den fünf Bundesländern, die aus den ehemaligen DDR-Bezirken hervorgegangen sind, ist das Land Brandenburg mit 8% das Bundesland, in dem mit Abstand die meisten Flächen militärisch genutzt wurden.[17] Den größten Anteil davon hatten die sowjetischen Streitkräfte. Doch auch die NVA, die Grenztruppen sowie sonstige militärische und paramilitärische Verbände nutzten großflächig Gelände.[18] Vielfach wurden Garnisonen und Militärobjekte übernommen, die bereits zuvor vom preußischen beziehungsweise deutschen Militär rund um die Hauptstadt Berlin gegründet worden waren.

Das heutige Land Brandenburg war für die Sowjetarmee von großer Bedeutung, denn es lag zentral in der Sowjetischen Besatzungszone, und vor allem schloss es die Hauptstadt Berlin ein. Da West-Berlin im Kalten Krieg eine westalliierte Insel inmitten der sowjetischen Einflusszone war, kam der unmittelbaren Umgebung eine große strategische Bedeutung zuteil. Mit 48% entfiel rund die Hälfte von den sowjetischen Streitkräften in Deutschland genutzten Liegenschaften auf das Land Brandenburg, die hier über 320 Objekte unterhielten.[19] Objekte sind hierbei nicht einzelne Gebäude, sondern Standorte, die teilweise die Ausmaße von kleinen Städten haben können. Diese Ausmaße verbunden mit der militärischen Kulisse geben solchen Lost Places eine post-apokalyptische Atmosphäre.

Während überirdisch märkischer Sand und monotone Kiefernforste das vertraute brandenburgische Landschaftsbild abgeben, schlummern unterirdisch zahlreiche versteckte Bunkeranlagen, die für einen Atomkrieg ausgelegt waren. Dieser Vorbereitungsgrad und die immensen Materialressourcen lassen einen noch heute erschaudern und das Bedrohungsszenario des Kalten Krieges real werden. Das sind Erinnerungsorte in ihrer größtmöglichen Authentizität.

Besonders beeindruckend ist die Liegenschaftenstatistik für den Landkreis Teltow-Fläming. 1989 wurden noch 17,8% der Fläche militärisch genutzt, mit 16,7% der überwiegende Teil durch die Sowjetarmee.[20] Diese Flächen liegen in einem Band von Zossen/Wünsdorf im Osten, über Sperenberg und Luckenwalde bis Jüterbog und Niedergörsdorf im Südwesten des Landkreises.

Nach dem Abzug der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland/Westgruppe der Truppen (GSSD/WGT) wurden nur noch 0,1% der Fläche militärisch genutzt.[21] In keinem anderen Landkreis wurden somit viele Gebiete zu Konversionsflächen. Rückbau, Sanierung oder Leerstand sind im Wesentlichen die Optionen für die ehemaligen Militärobjekte. Bisher ist die vereinfachte Faustregel: Je weiter die Standorte von urbanen Zentren wie Berlin und dem Speckgürtel entfernt sind, desto schlechter sind die Nachnutzungsmöglichkeiten und desto verbreiteter sind Lost Places.

Als Erinnerungsorte sind die militärischen Objekte Sonderfälle, denn üblicherweise waren sie stark gesichert und unzugänglich, als sie noch genutzt wurden. Hinzukommt, dass es sich in den meisten Fällen um sowjetische Objekte handelte, sodass die ehemaligen Nutzer heute in der Regel weit weg sind.

Trotzdem fungieren solche Lost Places als Erinnerungsorte, denn auch die ehemaligen zivilen Nachbarn haben Erinnerungen. Sie erinnern sich an Lärmbelästigung durch Militärübungen, Straßenschäden durch Militärfahrzeuge, die exotische Warenwelt im „Magasin“ (Laden) oder die Schwarzmärkte im Kasernenumfeld nach der Wende. Das Innenleben der Kasernen blieb den meisten Deutschen jedoch unbekannt.

Emotional wesentlich bedeutender sind diese Orte für die ehemaligen sowjetischen Soldaten und Familienangehörige, immerhin verbrachten sie an den Standorten Monate oder Jahre ihres Lebens. Es ist heute nichts Ungewöhnliches, dass Ehemalige an ihre alten Wirkungsstätten zurückkehren.

Wieder bilden Social Media-Gruppen virtuelle Erinnerungsräume, in denen Ehemaligen Erinnerungen und Bilder teilen, nicht nur von früher, sondern auch aktuelle Fotos, wo diese Orte als Lost Places erscheinen. Manchmal werden alte Bilder dem heutigen ruinösen Zustand gegenübergestellt, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie sich die Orte verändert haben.[22]

Neben den ehemaligen Soldaten und Offizieren gibt es auch viele Menschen in der ehemaligen Sowjetunion, die als Kinder ihre Zeit in Ostdeutschland verbracht haben. Allein 1991 wurden noch ca. 67.000 Kinder in den Schulen der sowjetischen Garnisonen unterrichtet.[23] Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere die meist als unbeschwert empfundenen Jugendjahre emotionale Erinnerungen hervorrufen, verstärkt dadurch, wenn sie auf den Fotos in den Social Media-Gruppen ihre alten Schulen als Lost Places wiedersehen.

Überfliegt man die einschlägigen Fotodokumentationen zu Lost Places, wird deutlich, welche Motive offensichtlich eine besondere Anziehungskraft besitzen. Neben architektonischen Besonderheiten wie ausgefallenen Treppenhäusern oder Fensterfronten sind es die spezifisch historischen Relikte.[24]

Von den authentischen Relikten, mit denen die Kulturhäuser, Fabriken und Kasernen einst ausstaffiert waren, ist heute nach zwanzig oder dreißig Jahren Leerstand kaum noch etwas übrig. Meist sind es Uniformreste, alte Zeitungen oder Dokumente und vor allem die noch vorhandenen Schriftzüge und Wandbilder. In den sowjetischen Kasernen sind es martialische Motive mit der Militärtechnik des Kalten Krieges, romantisch-naive Zeichnungen einer weit entfernten Heimat (Folkloremotive, Birken, Märchenfiguren) oder Propagandalosungen, die die sowjetischen Soldaten an die Pflichterfüllung ermahnen sollten. Diese exotischen Motive und kyrillische Schriftzeichen bekräftigen das Gefühl, ein Tor in die Vergangenheit durchschritten zu haben. Als Besucher fragt man sich mitunter, wie der Alltag für die sowjetischen Soldaten gewesen sein mag und was aus ihnen geworden ist?

Verlassenes Krankenhaus Lenin

Ein ehemaliges und zuletzt von der Sowjetarmee genutztes Lazarett mit einem Wandbild, das den russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin zeigt (Foto: Holger Raschke/Berlins Taiga, 2014)

 

Inwiefern ein echtes historisches Interesse bei den Besuchern der Lost Places besteht oder diese Objekte sowie die verbliebenen Relikte als bloße Kulisse dienen, dürfte sehr unterschiedlich sein. Online-Dokumentationen wie der digitale Ausflugsbegleiter bei Berlins Taiga[25] wissen um die Attraktivität dieser Lost Places, versuchen aber ganz bewusst historische Hintergründe zu vermitteln, damit den Lesern klar wird, dass hinter jedem Lost Place auch eine Geschichte steckt.

In den deindustrialisierten und entmilitarisierten Regionen Brandenburgs sind Lost Places wichtige Landschaftselemente. Die Popularität von Lost Places kann dazu beitragen, diese Orte als Erinnerungsorte für die Nachwelt zu erhalten. Bei einigen dieser Orte, die komplett oder in Teilen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, geschieht das bereits, und die Historie des Lost Places wird in irgendeiner Art kommuniziert. Da es sich teilweise auch um ein politisch-historisches schwieriges Erbe handelt, ist die Kommunikation eine große Herausforderung.

Je nach Objekt sind Lost Places mal fast vergessen, mal wird um sie und ihre Zukunft kontrovers debattiert. So unsicher die Zukunft einiger Lost Places ist, sicher ist zumindest, dass es Lost Places als steinerne Zeugnisse der Vergangenheit in Brandenburg auch in Zukunft geben wird.

 

Weiterführende Links

www.berlinstaiga.de (Dokumentation von sowjetischen Lost Places in Brandenburg) [zuletzt: 20.01.2021].

www.industrie-kultur-ost.de/ (Dokumentation von Industriedenkmälern und Fabrik-Ruinen) [zuletzt: 20.01.2021].

www.rottenplaces.de (Magazin rund um verfallene Bauwerke, Denkmalschutz & Industriekultur) [zuletzt: 20.01.2021].

1 Ein Lost Place im wahrsten Sinne des Ortes ist beispielsweise eine Brachefläche, auf der sich einst ein Wohngebiet befand, das im Zuge des Stadtumbau Ost abgerissen wurde.
2 Die englische Entsprechung ist ‚abandoned place‘, während im Deutschen häufig auch ‚vergessene Orte‘ oder ‚verlassene Orte‘ Verwendung finden.
3 Vgl. Christian Bauer/Christoph Dolgan, Towards a Definition of Lost Places, in: Erdkunde. Archive for scientific Geography 74 (2020), S. 101–115.
4 Exemplarisch Martin Kaule/Arno Specht, Geisterstätten Brandenburg: Vergessene Orte, Berlin 2020.
5 Auf der anderen Seite können Lost Places wie stillgelegte Fabriken für Graffiti-Sprayer Orte sein, an denen sie ihrem Hobby nachgehen, ohne andere zu stören.
6 https://trends.google.de/trends/explore?date=today%205-y&geo=DE&q=Lost%20Places [zuletzt: 20.01.2021].
7 https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam-Mittelmark/Beelitz/Eine-Million-Besucher-Beelitzer-Baumkronenpfad-knackt-magische-Millionengrenze [zuletzt: 20.01.2021].
8 Ausnahmefälle sind hier erfolgreiche touristische Produkte wie Beelitz-Heilstätten oder die ehemalige amerikanische Überwachungsstation auf dem Berliner Teufelsberg.
9 Manche Objekte lassen sich auch mehreren Kategorien zuordnen, wie beispielsweise die Beelitzer Heilstätten, die zunächst als medizinische Einrichtung zur Jahrhundertwende gegründet, später als sowjetisches Zentrallazarett ein militärisches Objekt waren.
10 Der Bogensee samt Objekt gehören – obwohl im Land Brandenburg liegend – dem Land Berlin.
11 https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/immobilien/bogensee-satellit-im-maerkischen-wald/26217582.html [zuletzt: 20.01.2021].
12 https://www.pnn.de/potsdam/streit-um-ddr-moderne-in-potsdam-widerstand-gegen-minsk-abriss-waechst/22955824.html [zuletzt: 20.01.2021].
13 Die Gebäude selbst können jedoch erheblich älter sein und zum Beispiel aus dem späten 19. Jahrhundert oder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein.
14 Vgl. Klaus Petry, Schrumpfende Stadt Wittenberge, in: Hartmut Bauer/Christiane Büchner/Olaf Gründel (Hgg.). Demografie im Wandel. Herausforderungen für die Kommunen, 2. Aufl., Potsdam 2009, S. 99–106, hier S. 99.
15 www.industrie-kultur-ost.de/ [zuletzt: 13.02.2021].
16 Vgl. rottenplaces. Magazin rund um verfallene Bauwerke, Denkmalschutz & Industriekultur 4/2020, S. 21f, online abrufbar unter: https://issuu.com/rottenplaces/docs/rottenplaces_magazin_31 [zuletzt: 20.01.2021].
17 Auch in den alten Bundesländern gibt es kein Bundesland, in dem mehr Flächen militärisch genutzt wurden.
18 Städtebauliche Investitionsmöglichkeiten auf ehemaligen Militärflächen in den neuen Bundesländern. Eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 09. Juni 1994 in Potsdam, Bonn 1995 [auch online: http://library.fes.de/fulltext/fo-wirtschaft/00361toc.htm (zuletzt: 20.01.2021)].
19 Vgl. Gerhard Kaiser, Sperrgebiet. Die geheimen Kommandozentralen in Wünsdorf seit 1871, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 128.
20 Vgl. Gerhard Mahnken (Red.), Konversion in Brandenburg und Berlin, Berlin 1995, S. 55.
21 Vgl. ebd.
22 https://www.instagram.com/sperenberger_ein_und_ausblicke/ [zuletzt: 20.01.2021].
23 Vgl. Helmut Domke, Wünsdorf – ein Militärstandort hat ausgedient, in: Andreas Franke/Detlev Steinberg (Hgg.), Wünsdorf. Eine russische Stadt in der DDR. 20 Jahre nach dem Abzug der Sowjetarmee, Halle 2014, S. 114.
24 https://hassan-fotografie.de/produkt-kategorie/spuren [zuletzt: 13.02.2021].
25 https://berlinstaiga.de/themen/lostplaces/ [zuletzt: 20.01.2021].